SP-Grossrat Thomas Gander begleitete jahrelang die Schweizer Fankurven. Im Interview erzählt er, was Jugendliche im Fussballstadion lernen.
Welche Rolle spielt eine Fankurve bei der Sozialisation von Jugendlichen?
Thomas Gander: Die Schweizer Fankurven sind eine klassische jugendkulturelle Bewegung, die für Jugendliche sehr attraktiv ist. Das Fansein geht weit über den Support des eigenen Teams hinaus. Die Jugendlichen erleben eine hohe Solidarität und ein Gemeinschaftsgefühl, das als Kompensation für die individualisierte Gesellschaft steht, in der der einzelne im Zentrum steht und täglich Leistung bringen muss. Freundschaften werden geschaffen und bewusste Provokationen gelebt, die im jüngeren Erwachsenenalter nicht untypisch sind. Das alles verbunden mit der Liebe zum Fussball.
Sind Fankurven Zufluchtsort für Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen?
Das Bild des arbeitslosen Jugendlichen, der mit seiner Zeit nichts besseres anzufangen weiss, stimmt mitnichten. Die Fanmasse ist sehr heterogen, kennt aber auch Hierarchien, wo sich Leaderfiguren herausbilden.
«Wir müssen uns mit unserem Idealbild einer gewaltfreien Gesellschaft kritisch auseinandersetzen.»
Wer sind diese Leaderfiguren?
Ich beschreibe sie als die denkenden Köpfe. Jene, die Tag und Nacht überlegen, wo die Kurve und der Fussball hin soll, z.B. welche Werte und Einstellungen die Fanbewegung vertritt. Welche Rivalitäten sind in Ordnung, wo und wann sucht man die Provokation? Diese Denker schaffen sich einen Namen, man hört auf sie.
Warum kommt es trotzdem zu Ausschreitungen?
Die kreative Unterstützung mittels aufwändigen Choreographien und Fangesängen ist nur möglich, weil die Fanbewegung als Masse solidarisch funktioniert. Gleiches gilt aber auch bei Ausschreitungen. Aus einer kleinen Auseinandersetzung kann sich innert Sekunden eine grössere Schlägerei entwickeln. Ich schätze jedoch den Grad der Selbstregulierung sehr hoch ein. Kritisch auseinandersetzen müssen wir uns Aussenstehende mit unserem Idealbild einer völlig gewaltfreien Gesellschaft. Hier erkenne ich oft eine unehrliche und widersprüchliche Debatte. Wer sich mit solchen Idealvorstellungen misst, wird immer sagen, dass zu wenig gegen Gewalt unternommen wird. Hier muss man den Mut aufbringen, das auch öffentlich zu sagen. Das heisst eben nicht, dass man Gewalt toleriert.
«In einer Fankurve lernen Jugendliche, Verantwortung zu übernehmen.»
Wo liegt der Unterschied zwischen einer Fankurve und einem staatlichen Jugendtreff?
Der Grad an Selbstverwaltung ist bei Fankurven viel höher. Im Jugendtreff sind Jugendarbeiter anwesend, die teils auch zu Aktivitäten animieren. Als Fanarbeiter siehst du dich eher in der Rolle des Zuschauers - mit entsprechendem fachlichen Rüstzeug - der sich für die Fanbewegung, die jungen Menschen darin, interessiert und je nach Situation in eine Erklärungs- oder Vermittlerrolle gegenüber der Öffentlichkeit, Vereinen und Medien tritt.
Was lernen Jugendliche in einer Fankurve?
Die Fans lernen, Verantwortung zu übernehmen. Ich war immer beeindruckt, wie stark sich eine Fankurve organisieren und austauschen muss! Die Fans lernen zudem, sich mit Argumenten zu behaupten und mit Auseinandersetzungen umzugehen. Der einzelne wird mit den Effekten einer Massenbewegung konfrontiert und erlebt auch, was für Ängste sie auslöst und wie destruktive Kräfte Überhand gewinnen können. Manche lernen ihre eigenen Grenzen kennen, spüren, was eine Masse mit ihnen macht und sind überrascht, zu was sie sich hinreissen lassen. Hier ist auch Kritik angebracht. Es braucht erfahrene Personen, die sich für diese Vorgänge interessieren und die Auseinandersetzung mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf Augenhöhe suchen.
Thomas Gander war langjähriger Fanarbeiter beim FC Basel. Heute sitzt er im Grossen Rat in Basel. Er wehrt sich gegen ein zunehmendes Benimmdiktat und eine Verboskultur.